Als Kind eines Vaters, der 1937 als Kommunist und Widerstandskämpfer ins Gefängnis kam, erlebte Georg Krieg und Vorkriegszeit mit wachen Augen. Mit seiner Mutter, die in Berlin als Buchhalterin arbeitete, wohnte er in Berlin-Britz in der Nähe der Hufeisensiedlung. Georg war neun Jahre alt, als Hitler den Zweiten Weltkrieg am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen begann.
Georg: Für viele Menschen kam Hitlers Überfall auf Polen überraschend. Aber es gab schon vorher Anzeichen. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass ein Cousin von mir, der Soldat war, bereits im Sommer eine Urlaubssperre bekam. Der Überfall auf Polen war kein Kurzentschluss von Hitler. Alles war schon vorbereitet, die Angriffstruppen standen bereit. Es musste nur ein Anlass organisiert werden. »Deutschland, ein Volk ohne Raum« war eines der politischen Schlagwörter von damals. Was dahinter stand, nämlich das Ziel, Raum zu erobern, habe ich damals nicht verstanden. Aus Bessarabien, Siebenbürgen und anderen Gebieten Südosteuropas wurden Menschen und Familien »Heim ins Reich« geholt. »Heim ins Reich« und »Volk ohne Raum«, das widersprach sich eigentlich. Viele Leute haben aber beides für gut gehalten und den Widerspruch nicht erkannt.
Nachdem das Sudetenland einkassiert und anschließend ganz Böhmen und Mähren zum Protektorat geworden waren, begannen in Polen vom Volksbund für Deutschtum im Ausland (VDA) organisierte Zwischenfälle zwischen deutschen und polnischen Verwaltungen, welche die NS-Propaganda ausschlachtete. Einen von der SS vorbereiteten, fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz nahm Hitler dann zum Anlass, »zurückzuschlagen«. Das war der Beginn des Krieges. Die dafür notwendige Truppenaufstellung war schon ab dem Sommer geschehen. Vom sogenannten Bromberger Blutsonntag am einige Tage nach Kriegsbeginn gab es Bilder im Völkischen Beobachter und auch in der Morgenpost, die wir zu Hause lasen. So wurde Stimmung erzeugt und das harte Vorgehen gegen die polnische Bevölkerung gerechtfertigt: »Unsere armen Brüder, die werden unterdrückt, geknechtet und ermordet«.
Die allgemeine Kriegsstimmung war auch unter den Kindern spürbar. Durch die Eingliederung in die nationalsozialistischen Jugendorganisationen – ab 1939 war Mitgliedschaft in der Hitlerjugend Pflicht – drangen die Feindbilder und Militarisierung der Nazipropaganda tief in ihre Leben ein.
Georg: Am 20. April 1940 wurde ich zur HJ-Dienststelle in der Hufeisensiedlung befohlen. Wir haben überlegt, Mutter und ich. Mein Vater war da schon als Nazigegner verurteilt. Im Februar 1937 war er verhaftet worden, weil er für Angehörige eingesperrter Widerstandskämpfer Hilfe organisiert hatte. Ich lag noch im Bett, als ihn Gestapo-Beamte morgens um sechs Uhr mitnahmen. Da war ich keine sieben Jahre alt. Seitdem standen wir unter der Aufsicht vom Blockwart Gojecki, der in unserer Straße wohnte. Um weiter leben zu können, wollten wir keine Sonderaufmerksamkeit erregen. Also bin ich zur HJ hingegangen. Die wöchentlichen Dienste fanden im alten Schulgebäude in Britz statt.
Wir wurden eingeteilt, in Horden zu fünft, Jungenschaften zu zehnt, in Jahrgangszüge und Fähnlein. Die Gruppen hatten alle von oben ernannte Führer, eine farbige Kordel an der Uniformjacke zeigte ihren Rang an. Unser Fähnlein hieß Hohenfriedberg. Wie die anderen war es nach einem Schlachtsieg der Brandenburger Fürsten ernannt. So wurde die kriegerische Tradition gepflegt und uns durch die Fahne eingeprägt.
In der Königsheide wurde Geländespiele mit »Feinden« veranstaltet. Wir übten, uns anzuschleichen, zu robben, lernten Sprungauf – marsch marsch, Marsch und Sturm. Wir sangen Marschlieder, manchmal auch Volkslieder. »Wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt«, so begann der Refrain von einem der Lieder.
Dienst hatten wir auch, wenn die Nazis eine Kundgebung machten. Dann hatten wir anzutreten, um das Publikum abzugeben. In der Kolonne musste ich immer hinten marschieren und nicht außen, denn meine Mutter hatte »kein Geld« für Uniformteile. Fand die Kundgebung in der Nähe der Reichskanzlei statt, hatten wir im Sprechchor zu rufen: »Wir wollen unseren Führer sehen«. Der kam dann auf den Balkon – oder auch nicht.
Auch in den Kinderspielen wirkte sich die Militarisierung der Gesellschaft aus. In Britz spielte Georg mit den anderen Kindern auf der Straße, Autos gab es zu der Zeit kaum. Geistige Gewöhnung an den Krieg und praktische Vorbereitung auf das Soldatendasein waren Programm.
Die Blitzsiege der ersten Kriegsjahre imponierten vielen Jugendlichen. Landser-Hefte für zwei Groschen und »Kolonialhefte« stellten deutsche Helden in unsere Phantasie. »Der die das verflixte und verfluchte Land, das ich nicht leiden kann«, hieß eines unserer Spiele. Mit Kreide malten wir Kinder um uns einen Kreis und schrieben den Namen eines Landes hinein. Dann prellte der Spielanfänger den Ball auf und nannte den Namen des »verfluchten« Landes. Das Kind in dem entsprechenden Kreis musste den Ball fangen und konnte dann ein anderes Kind abwerfen. Landete es einen Treffer, durfte es sich dann von dessen Land ein Stückchen als »Kolonie« abzwacken. Nazischriften hatten wir nicht gelesen. Aber was die Nazis im Großen wollten, das spielten wir schon im Kleinen.
In den großen Gemeinschaftsbuddelkästen wurden wir auf einmal zu Kämpfern, welche die Clique vom anderen Buddelkasten zu Feinden erklärte. Durch den Sand gruben wir bis zu den tieferen Lehmschichten. Aus dem Lehm formten wir Kleinen handgroße und kleine Kugeln. Die Großen nahmen sie als Munition mit und stürmten gegen die Kinder des anderen Buddelkastens. Auch das war eine Gewöhnung an den Krieg. Für das Kriegsspielzeug, das überall verkauft wurde, hatte meine Mutter »kein Geld«, ebenso wenig wie für die HJ-Uniform.
»Führer befiehl, wir folgen dir« hieß die Parole während der Kriegsjahre. Besonders die Kinder von NSDAP-Mitgliedern fühlten sich berufen, als Vertreter des »Herrenvolkes« später Kommandostellen in den eroberten Gebieten einzunehmen. Einer meiner Spielfreunde, ein bisschen älter als ich, hatte das Berufsziel, »Grenzbauer mit Pflug und Gewehr« zu werden. Da hatte die Nazidenke ganz extrem gefruchtet. Auch ich wollte Bauer werden. Aber ich wollte Kartoffeln anbauen – oder Häuser bauen.
Während die Kinder Bilder von explodierenden und sinkenden Transportschiffen zeichneten und mit Waffenmodellen spielten, wurden ihre Väter in den Krieg geschickt. Weil die Männer fehlten, mussten die Frauen arbeiten, in den Rüstungsfabriken und Verwaltungen. Mit dem fortschreitenden Krieg kamen seine tödlichen Folgen auch in Deutschland an.
Georg: Ab und zu kamen Bekannte in Uniform nach Hause, weil sie Urlaub hatten. Wer ein Kind kriegte, bekam Sonderurlaub, auch von der Front. Deswegen gab es in diesen Kriegsjahren besonders viele Kinder, die jetzt 80-Jährigen. Vom Einen oder Anderen hörte man, dass er nicht wiedergekommen ist. Und der Eine oder Andere kam wieder und es fehlte ihm ein Arm oder ein Bein. Da fiel es nicht weiter auf, dass auch mein Vater weg war. Ein Junge, vielleicht fünf Jahre jünger als ich, kam eines Tages auf den Spielplatz gelaufen und weinte: »Mein Vater ist gefallen!«. Wir Älteren kannten den Begriff »gefallen« schon, und da bin ich zu ihm nach Hause gegangen, um ihn zu trösten. Er lebt heute noch.
Der Krieg ging weiter, weil die Menschen ihn geduldet und mitgemacht haben, weil sie Todesopfer oder den Heldentod nicht gescheut haben, weil nur ganz wenige sich als »Vaterlandsverräter« entzogen haben und in die Hände der Engländer oder Amerikaner oder Sowjetsoldaten übergelaufen sind. Die anderen haben eben gekämpft bis zum Kriegsende oder bis sie selber tot waren. Das ganze Mitmachen und Mitlaufen hat ihnen aber auch nicht das Leben gerettet.
1940 flogen die Alliierten ihre ersten Luftangriffe auf Berlin. Die Bombardements wurden mit immer größeren Flugzeugverbänden bis zum Kriegsende gesteigert.
Georg: Göring hatte mal erklärt »wenn ein feindliches Flugzeug Berlin erreicht, dann will ich Meier heißen«. Das hatte er wohl vergessen, als die Flugzeuge gekommen sind. Erst kamen einzelne, später kamen sie in Massen. Der Großvater hatte den Keller unseres Hauses mit einem Eisenträger und einer Holzstütze gesichert. Später gingen wir bei Fliegeralarm in den Bunker, der von Pionieren in der Laubenkolonie am Buschkrug errichtet worden war. Die Leute die dichter dranwohnten, kamen in den Räumen unter. Wir, die weiter weg wohnten kamen erst später, da war nur noch Platz in den Verteilungsgängen. Während des Angriffs wurden die Außentüren luftdicht verschlossen, so dass wir drinnen dicht bei dicht standen und immer dieselbe Luft ein- und ausatmeten. Wer Glück hatte, konnte sich an der Wand anlehnen.
Als die Bombardements von Berlin stärker wurden, wurden alle Menschen evakuiert, die nicht direkt am Krieg beteiligt waren. Georg entging der HJ-Verschickung in ein ehemaliges Sporthotel in Polen und kam bei Verwandten im Harz unter. Ein ehemaliger Kupferbergarbeiter nahm ihn in auf. Bei verwandten Bauern half er bei Feld- und Stallarbeiten mit, die Kinder aus der Gegend wurden außerdem auf Einsätze zum Rübenziehen geschickt.
Auf dem Hof hinterließ der Krieg Spuren, es war nur noch der Altbauer da. Der Bauer musste Soldat sein. Es fehlten auch weibliche Dienstkräfte, daher wurde eine Zwangsarbeiterin aus Polen auf dem Hof mit eingesetzt. Sie hatte ihre eigene Kammer, aber immerhin saß sie beim Essen mit der Familie am Tisch. Sie musste alle Magdarbeiten erledigen. Später kam auch noch ein jüngerer Mann, der wegen der zurückgehenden Front aus besetzten polnischen Gebieten ins Reich heimkehren musste und zwei gut gepflegte Pferde mitbrachte. Merkwürdig, dass der nicht Soldat werden musste... Andere, junge Bauern kamen nicht mehr nach Hause, weil sie umgekommen waren.
Im Harz erlebte Georg das Kriegsende. Die ersten Besatzungstruppen waren amerikanische. Dann wechselte die Besatzungszone: die Amerikaner hatten zu viel erobert und übergaben das Gebiet an Sowjetsoldaten. Endlich erreichte Georg Weise die Nachricht, dass sein Vater lebte. Vom Harz aus nach Berlin zu kommen war nicht einfach. 30 km konnte man mit dem Zug ohne Genehmigung fahren, so erreichte er Halle. Danach musste Georg sich durchschlagen.
Georg: Personenzug? Keinen gesehen im Bahnhof Halle. Dann lief ein Güterzug ein mit der Ansage: »Dieser Zug fährt nach Berlin.« Die Leute, die nach Berlin wollten, haben ihn gestürmt. Vor mir stand eine offene Lore zum Transport von Sand und Stein, da erwischte ich einen Stehplatz. Manche, die früher da waren, konnten sich auf ihren Koffer setzen. Abwechselnd fuhr und stand der Zug, Langsamfahren war angesagt. Wichtigere Züge mit Versorgungsgütern hatten Vorfahrt. Es wurde Abend, ehe wir in Berlin ankamen. Bei der Kolonnenbrücke kletterte ich auf die Gleise und von dort aus auf die Straße, die geradezu nach Neukölln ging. Mein Koffer, so schwer wie er war, er war mir leicht, und als die Uhr acht schlug, war ich am Rathaus Neukölln. Da begann die Sperrzeit, wo kein Zivilist mehr auf der Straße sein durfte. Ich wartete, bis ein Streifenpolizist vorbeikam und sprach ihn an. Er nahm mich mit auf die Wache in der Schudomastraße. Dort durfte ich warten, bis die Sperrzeit endete. Die Glocken schlugen halb neun, dreiviertel neun, um neun… so hörte ich alle Zeitansagen. Als es endlich sechs schlug, ging ich aus der Tür. Noch vor sieben Uhr klingelte ich am Haus meiner Familie. Da war die Überraschung groß. Meine Mutter wusste ja, wie ich aussehe. Aber mein Vater kannte mich noch als Sechsjährigen. Und jetzt kam einer, der so lang war wie er selber... Ich sah einen mageren Mann, der da vor mir stand und mein Vater war. Es hat dann eine Weile gedauert, bis wir uns wieder kannten. Aber die Freude war groß, wir lebten alle und das Haus stand.
»Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus« das war die allgemein verbreitete und anerkannte Parole nach dem Krieg – das sagten alle, die froh waren, dass er vorbei war. Für Nazi-Anhänger war es eine Niederlage. Und für manche dauerte es, bis sie das Ende als ihre Befreiung empfinden konnten. Aber für die Mehrzahl hieß es: nie wieder Krieg. Das ist für mich lebenslänglich so geblieben.
Nach dem Krieg machte Georg Weise eine Ausbildung zum Maurer und baute Berlin mit wieder auf. Später studierte er zum Bauingenieur. Mit seiner Familie zog er als einer der ersten in die neu erbaute Gropiusstadt, kämpfte dort mit anderen Mieter*innen für ein Ärztehaus, mehr Schulen und gegen den Wegfall der Mietpreisbindung. Auch bei der Instandbesetzer*innenbewegung mischte er mit und gründete 1998 die Neuköllner Erwerbsloseninitiative ErwiN. Engagierter Gewerkschafter und Friedensaktivist ist er lebenslang.