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Neukölln trauert um Marco Reckinger. Am 8. Januar verstarb der junge Musikproduzent an seinem Schlafplatz im Schillerkiez. Credit: Julian Koller

Menschen aus Neukölln

Ausgesperrt - Obdachlos im Lockdown

Neukölln trauert um Marco Reckinger. Am 8. Januar verstarb der junge Musikproduzent an seinem Schlafplatz im Schillerkiez. Sein Tod wirft ein Schlaglicht auf die unhaltbare Situation wohnungsloser Menschen im Corona-Winter.

Gedenkstätte für den verstorbenen Marco Reckinger in der Herrfurthstraße.

Julian Koller

Vor dem bunt geschmückten Hauseingang in der Herrfurthstraße bleiben die Menschen stehen, jeden Tag sind es viele. Die Erinnerung an den meist freundlichen und charismatischen 33-jährigen, der an einer schizophrenen Erkrankung litt und in den letzten Monaten auch physisch extrem geschwächt war, ist noch frisch und schmerzhaft. Man weiß auch: Marco wird diesen Winter wohl nicht der Einzige bleiben.

Individuelle Schicksale, institutionelle Schwächen

Wieso konnte, wieso kann das jederzeit passieren? Diese Frage beschäftigt Neukölln. Ignoriert wurde Marco (der sich später Markus nannte) im Kiez nämlich nicht: Nachbar*innen unterstützten ihn materiell und wendeten sich, um seinen gesundheitlichen Zustand besorgt, mehrmals an den zeitweise gefährlich unterbesetzten sozialpsychiatrischen Dienst. Dessen Team kannte Marco bereits, eine Psychose wurde diagnostiziert. Da keinerlei Selbst- oder Fremdgefahr bestanden hätte, blieb eine Einweisung jedoch ausgeschlossen.

Jegliche weiterführenden Kontaktversuche und Angebote der Wohnungslosenhilfe habe er außerdem abgelehnt, so Gesundheitsstadtrat Falko Liecke. Die Art institutioneller Hilfe, die man Marco anbot, wollte oder konnte er nicht annehmen - und so bekam er letztlich gar keine. Sein früher Tod wirft viele soziale Fragen auf, doch verweist vor allem auf eines: 

Die Schicksale und Bedarfe wohnungsloser Menschen sind individuell und divers. Und sie sind viele.

Hilfsangebote während Corona ausgesetzt

Rund 2.000 Obdachlose - wahrscheinlich nur ein Bruchteil - ließen sich im Februar 2020 in Berlin freiwillig zählen. Die prekäre Situation auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt hat in der Pandemie noch mehr Menschen um ihre Wohnung gebracht. Während die bestehenden Hilfen schon vor Corona nicht ausreichten, um Betroffenen nachhaltige Hilfestellung für ein selbstbestimmtes Leben zu bieten, sind nun selbst Angebote zur Grundversorgung nur stark eingeschränkt zugänglich. Dies gilt insbesondere für Tagescafés und Essensausgaben. Krankenhäuser und Therapieangebote sind überlaufen.

Hilfe von Passanten ist im Lockdown rar. Initiativen wie das Karuna-Sub, der Johannisstift-Foodtruck, die Klik-Beratung oder die Kältehilfe versuchen, unter Druck flexibel auf die Notlage zu reagieren.Der Arbeitskreis Wohnungsnot hat das Naheliegende aufgegriffen und eine Petition zur Aufnahme von Obdachlosen in geschlossenen Hotels gestartet.

Neue Pläne für die Berliner Wohnungslosenpolitik

Sozialsenatorin Elke Breitenbach und Staatssekretär Alexander Fischer (beide DIE LINKE) verfolgen in ihrem Masterplan für die Wohnungslosigkeit einen noch weiter gefassten Ansatz: Wo die Folgen der Pandemie für Neukölln und ganz Berlin noch nicht absehbar sind, ist eine Neuausrichtung der Wohnungslosenpolitik gefragt. Menschen auf der Straße brauchen zuallererst eine Wohnung und wenn nötig entsprechende Angebote für Beratung und Unterstützung. Die Aufgabe eines an Empowerment und Emanzipation orientierten Sozialstaats ist es, den Weg aus der Wohnungslosigkeit so kurz und schnell wie möglich zu bahnen. Wichtigste Grundlage dafür ist ein sozialer, städtisch organisierter Wohnungsmarkt - denn jeder Mensch, der unfreiwillig auf der Straße landet, jeder, der sein Leben auf ihr lässt, ist einer zu viel!

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Menschen aus Neukölln

Das eigene Versagen den Anderen in die Schuhe schieben

Über die aktuelle Clan-Debatte und über Stigmatisierung als Ablenkungsstrategie sprach Neuköllnisch mit Mehdi Chahrour, Mitgründer des Vereins M.A.H.D.I e.V.