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Frauen in weißem Hemd mit rotem Schal lachen in die Kamera Credit: Lucía Gauchat Schulte

Kunst & Kultur

Die roten Kehlen von Neukölln

Der Arbeiter- und Veteranenchor Neukölln singt seit 34 Jahren Lieder für den Frieden, mehr Solidarität und die Arbeiterklasse. Die Gründe dafür sind überraschend zeitgemäß.

Rotes Tuch auf weißem Hemd. So tritt der Arbeiter- und Veteranen Chor Neukölln seit seiner Gründung 1986 auf.

Lucía Gauchat Schulte

„Wir haben vielleicht nicht so viele Stimmen, aber umso mehr Herz.“ Ursula Hybbeneth steht vor der Tür des Proberaums in Berlin-Neukölln und wartet auf den Beginn ihrer Chorprobe. Sie ist künstlerische Leiterin des Arbeiter- und Veteranenchors Neukölln und auch deshalb ist es ihr wichtig pünktlich zu beginnen. Sie trifft sich jeden Mittwoch mit etwa 20 weiteren Frauen, um gemeinsam zu singen. Als der Chor sich 1986, im internationalen Jahr des Friedens gründete, waren sie vielleicht noch doppelt so viele Sänger*innen, aber sie singen heute noch mit genauso viel Herz wie damals, sagt Hybbeneth bestimmt und lacht.

Im Probenraum an der Hasenheide gehen die Stimmen die Tonleiter rauf und wieder runter. Die Frauen haben Liederbücher auf dem Schoß, ein rot eingeschlagener Hefter, vorne eine Friedenstaube mit roter Musiknote im Schnabel – das ist das stolze Emblem des Chors. Musik und Frieden eben, so wie es die Gründungsmitglieder von 1986 wollten. Eine Frau am Klavier stimmt jetzt die ersten Takte von Arbeiter von Wien an.

„So flieg, du Flammende, du rote Fahne, voran dem Wege, den wir zieh'n.
Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer. Wir sind die Arbeiter von Wien.“

Das Lied sangen Demonstrant*innen in Wien, als sie 1927 gegen die Austrofaschisten auf die Straße gingen. Nicht jede Note sitzt, aber da sei der Chorgeist wichtiger als der musikalische Anspruch, findet Hybbeneth.

Warum treffen sich diese Frauen zwischen 64 und 82 Jahren jede Woche um zu singen? Natürlich sind es ältere Frauen in der Rente, die sich schon viele Jahre kennen und denen der Mittwoch einmal pro Woche Halt und Struktur gibt. Aber nicht nur. Für sie ist ein Chor auch singender politischer Ausdruck. Wer singt heute schon noch Arbeiterlieder, könnte man sich fragen. Aber wenn die Frauen über ihren Chor reden, fallen da auch Begriffe wie Tradition, Heimat und Herkunft, um die sich heute in verschiedenen politischen Lagern wieder sehr aktuell gestritten wird.

Bei Hybbeneth war es ihr Vater, der sie mit zum Chor genommen hat, kurz bevor „sie auf Rente gegangen ist“, wie sie sagt. Nachbarn, Freunde und Familie, alles Arbeiterkinder aus Neukölln. Sie selber war zudem auch Mitglied bei der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins, einer von der SED angeleitete und finanzierte Parteischwester im Westen der Stadt. In Hybbeneths Familie war man mit den Liedern groß geworden, die sie heute vor dem Vergessen bewahren will. Aber nicht alle Mitglieder des Chor haben die Lieder mit der Muttermilch aufgesogen. Es sind auch einige dabei, denen das Traditionsbewusstsein am wichtigsten ist. „Wir dürfen die Menschen, die hintern den Liedern standen nicht vergessen“, sagt Hybbeneth. Und: „Wir brauchen Frieden auf der Erde.“

Karin Dalhus hat eine besondere Position im Chor. Die ruhige und nachdenkliche Frau war keine Kommunistin im Westen, sondern eine politisch überzeugte Erzieherin in der DDR. Sie wohnt heute noch in Marzahn und fährt jeden Mittwoch anderthalb Stunden, um im Chor zu singen. Für sie war die Wende damals eine Katastrophe: Die Pionierorganisation Ernst-Thälmann und die freie deutsche Jugend aufgelöst, die Schulbücher weggeworfen, Dalhus aus dem Schuldienst entlassen, ihre Abschlüsse nicht mehr anerkannt. Für Hybbeneth war der Untergang der DDR weniger bedeutsam: „Wir waren vorher im Kapitalismus und auch nachher im Kapitalismus“. Persönlich traurig war sie schon. War die DDR doch der erste Staat, der versuchte das umzusetzen, was sie anstrebten.

„Ganz nostalgisch sind wir ja auch nicht“, erzählt Hybbeneth. Neulich sei der Chor auf einer Kundgebung zur Mietenproblematik in der Gropiusstadt gewesen und haben da „den Baggerführer Willibald hervorgeholt“, ein fröhliches Kinderlied über Mietenwahnsinn und Immobilienspekulation.

Das „Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung“ wurde im Dezember 2014 von der UNESCO zum immateriellen Kulturerbe erklärt. „Klar kriegste mit den Liedern von damals nicht mehr alle hinterm Ofen hervorgelockt“, sagt Hybbeneth, „aber auch, weil deren Klassenbewusstsein nicht mehr da ist.“ Wenn Arbeit und Freizeit ineinander übergehen und die Grenze zwischen Chef und Nichtchef verwischt wird, kann sich das Klassenbewusstsein kaum noch entwickeln, vermuten Hybbeneth und Dalhus.

Ihr Chor ist für die Frauen nicht nur politische Heimat. Die Frauen zeigen, dass es möglich ist sich nach Kontinuität, Gemeinschaft und Tradition zu sehnen und trotzdem ein flammend rotes Herz auf der Zunge zu tragen. „Neukölln ist für mich meine dritte Heimat geworden“, sagt Dalhus. Ihre erste Heimat war Altlindenau in Leipzig, die zweite liegt in Marzahn und die dritte sei eben Neukölln. „Wegen des Chors.“

Wer den Arbeiter- und Veteranenchor live erleben und mit ihnen über Heimat und Kollektivität diskutieren möchte, kann das vom 22.-28.02.2020 im Heimathafen Neukölln tun, wo der Chor an einem Theaterstück mitwirkt.

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