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Gruppenbild vor einem Banner für das Gesundheitskollektiv. Alle Menschen gucken schräg nach rechts oben. Credit:

Arbeit & Soziales

Prekarität macht krank

Gesundheit hat mit der sozialen Situation zu tun – auf diesem Gedanken gründet das Gesundheitskollektiv. Auf dem Gelände der Kindl-Brauerei entsteht ihr neues Gesundheitszentrum. Neuköllnisch hat sich mit der Physiotherapeutin Shao-Xi Lu und der Ärztin Kirsten Schubert über das Projekt unterhalten.

Shao-Xi Lu ist Physiotherapeutin, Kommunikationswissenschaftlerin und studiert Public Health. Im Gesundheitskollektiv ist sie zuständig für Gemeinwesenarbeit und Gesundheitsförderung.

Kirsten Schubert ist Ärztin in Weiterbildung zur Allgemeinmedizinerin und arbeitet in einer Hausarztpraxis in Neukölln. Sie ist schon lange im Gesundheitskollektiv aktiv und wirkt derzeit im Bereich „innovative Konzepte für die medizinische Versorgung“.

Wie gesund ist Neukölln eigentlich?

Shao-Xi: Im Vergleich mit anderen Bezirken und Stadtteilen sind insbesondere der Rollberg und der Flughafenkiez, wo wir unseren Schwerpunkt setzen, weniger gesund.

Kirsten: Wir haben eine Sozialraumanalyse erstellt und beispielsweise Daten von Schuleingangsuntersuchungen, aber auch von Erwachsenen ausgewertet. Hier sind eigentlich alle chronischen Erkrankungen deutlich stärker verbreitet, als in den meisten anderen Berliner Stadtteilen. Seien es Kinder mit Zahnproblemen, Übergewicht oder Verhaltensauffälligkeiten oder Erwachsene mit Diabetes oder Krebserkrankungen.

Sind die Menschen nicht selbst für ihre Gesundheit verantwortlich?

Kirsten: Wir gehen davon aus, dass die prekären Bedingungen, unter denen die meisten Menschen hier im Kiez leben, Krankheiten hervorbringen. Die Lebenserwartung ist hier deutlich niedriger. Das liegt nicht zuletzt an der schlechten Wohnsituation und den niedrigen Einkommen.

Shao-Xi: Dass die Menschen weniger gesund sind, bedeutet auch, dass sie weniger fähig sind, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Da schließt sich dann der Kreis. Auch die Gesundheitsversorgung ist hier schlechter, weil sich weniger Ärzte niederlassen.

Ihr wollt neue Wege gehen. Was bedeutet Gesundheit für euch?

Shao-Xi: (lacht) Alles. Das kann man nicht auf einen Punkt reduzieren, weil es so allumfassend ist.

Kirsten: Ich finde die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hilfreich. Die besagt, es geht um das physische, psychische und soziale Wohlbefinden. Wir Ärzt*innen und Menschen im Gesundheitswesen haben die starke Tendenz, uns auf das Physische zu beschränken – oder wenn man Psychotherapeut*in ist auf das Psychische – aber das Soziale wird in den meisten Fällen komplett ausgeblendet. Ich sehe aber bei allen Patient*innen, mit denen ich in meiner Praxis zu tun habe, wie stark sich die soziale Situation auf die Gesundheit auswirkt. Das belegen auch alle Studien. Das ist eigentlich der Gründungsgedanke unseres Projekts.

Ihr wollt Faktoren wie hohe Mieten oder schlechte Arbeitsbedingungen miteinbeziehen in euer Gesundheitskonzept. Günstige Mieten gibt es aber leider nicht auf Rezept. Wie wollt ihr dann heilen?

Shao-Xi: Das ist natürlich eine Herausforderung. Wir versuchen zuallererst, den Leuten, die zu uns kommen, ganz konkret bei ihren Problemen zu helfen. Aber wir wollen eben auch Verbindungen vom Einzelfall zum großen Ganzen herstellen. Natürlich ist jemand, dem seine Probleme gerade über den Kopf wachsen, nicht unbedingt fähig, gleich eine Mieten-Demo zu organisieren. Aber trotzdem wollen wir auch ermutigen, selbst etwas zu tun. Sei es nun im Kleinen oder vielleicht auch zusammen mit Anderen zu versuchen, große Räder zu drehen.

Kirsten: Gerade heute war eine ältere Patientin bei mir, die ursprünglich wegen Lungenbeschwerden kam und deswegen nicht zur Arbeit konnte. Sie raucht gerade sehr viel. Erst beim zweiten oder dritten Besuch kam heraus, dass sie derzeit wohnungslos ist. Jetzt muss sie sich Geld leihen für ein Hotel und sucht verzweifelt nach einer Wohnung. Natürlich ist sie mit den Nerven am Ende. Sie hat Angst, ihren Job zu verlieren, weil sie gerade nicht in der psychischen Verfassung ist, um arbeiten zu können. Als Hausärztin bin ich da alleine aufgeschmissen, weil sie mehr als bloß medizinische Hilfe braucht. Das ist sinnbildlich für den Ansatz unseres Zentrums, wo ich gemeinsam mit dem Psychotherapeuten, der Sozialarbeiterin, einer Mietrechtsberaterin und Anderen besprechen könnte, wie wir der Frau helfen können. Vielleicht könnten wir dann im weiteren Verlauf auch Kontakt zu Initiativen und Gruppen herstellen und Vernetzung von Leuten mit ähnlichen Problemen vorantreiben.

Aber es gibt doch bereits viele Beratungsangebote.

Shao-Xi: Häufig werden sie aber von den Betroffenen nicht wahrgenommen, weil die Hürden so hoch erscheinen. Die Bereitschaft, sich der Hausärztin oder dem Physiotherapeuten anzuvertrauen, ist da in der Regel größer…

Kirsten: … weil da ein Vertrauensverhältnis besteht. Deswegen liegt es auch ein Stück weit in unserer Verantwortung, den Patienten als Ganzes wahrzunehmen, also auch seine sozialen Probleme miteinzubeziehen und zu überlegen, wo man ansetzen kann. Zum Beispiel Ursachen für Stress. Das finden eigentlich auch wirklich alle, die man fragt, völlig logisch. Meistens denken die Patient*innen aber, beim Arzt sei nicht der richtige Ort, um über ihre Probleme jenseits der körperlichen zu sprechen. Genau das wollen wir ändern.

Ist das in unserem Gesundheitssystem überhaupt möglich?

Shao-Xi: Natürlich stößt man schnell an Grenzen. Eine Ärztin hat gar keine Zeit, sich umfangreich nach Hilfsangeboten für ihre Patient*innen umzusehen. Die Krankenkassen stellen dafür ja auch gar keine Mittel bereit.

Kirsten: Ich habe bei der Sprechstunde mit der besagten Patientin eine halbe Stunde drangehängt. Das geht eigentlich nicht. Wenn du 20 Minuten mit einem Patienten sprichst, ist das schon sehr viel. Die meisten Ärzt*innen betreiben „Fünf-Minuten-Medizin“. Aber in fünf Minuten kannst du wirklich nicht zu den sozialen oder psychischen Ursachen vordringen. Wir versuchen Gesundheitsstrukturen als Netzwerk zu verstehen, wo wir auch eine Art Lotsenfunktion einnehmen wollen und uns eng im Kiez vernetzen wollen, zum Beispiel auch mit Stadtteilmüttern und Stadtteilvätern…

Auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei im Rollberg entsteht euer neues Gesundheitszentrum. Wann soll das fertig sein?

Kirsten: Die Eröffnung hängt – wie so oft – vom Fortschritt der Baumaßnahmen ab. Da hat es jetzt verschiedene Verzögerungen gegeben. Wir rechnen aktuell mit Sommer 2020. Es wird ein großer Neubau, in welchem wir Erdgeschoss und erste Etage mit Sozialzentrum und medizinischem Zentrum belegen wollen.

Wir haben aber jetzt schon verschiedene Projekte gestartet. Wenn alles klappt, eröffnen wir bald eine erste Kinderarztpraxis in der Karl-Marx-Straße. Auch eine Kinder- und Jugendpsychotherapeutin nimmt demnächst die Arbeit auf. Wenn der Neubau fertiggestellt ist, werden diese Akteure und Projekte nach und nach in das Zentrum ziehen. Wir haben auch schon einen Arzt für Allgemeinmedizin, der dann dazustoßen wird. Für uns ist aber das Wichtigste die Stadtteilarbeit. Wir betreiben schon seit Jahren Vernetzung und kennen inzwischen auch alle Akteure hier vom Quartiersmanagement bis zum Kiezanker.

Welche Angebote habt ihr jetzt schon?

Shao-Xi: Das ist einmal das Thema Gesundheitskompetenz, also: Wie finde ich mich im Gesundheitssystem zurecht? Es gibt aber auch bestimmte Themen, die auf Interesse stoßen, zum Beispiel Schilldrüsenerkrankungen, also auch mal ganz medizinische Themen. Wir besuchen dafür Einrichtungen wie Elterncafés oder Moscheen, Bibliotheken oder Vereine. Wir gehen dorthin, wo die Menschen sind. Dabei versuchen wir herauszufinden, welche Themen sie interessieren und wie wir sie ermutigen können, ihre Fragen und Probleme ihren Ärzt*innen zu stellen.

Kirsten: Das Wichtige ist, dass das Interesse von den Leuten kommt. Dass wir nicht ankommen und sagen: Ernährung ist doch ein wichtiges Thema! Natürlich setzen auch wir Themen, etwa unsere Veranstaltungen „Miete und Gesundheit“, wenn wir das Gefühl haben, da brennt es gerade und da wollen wir Wissen zusammentragen über soziale Verhältnisse und Gesundheit. Aber bei dem Projekt Mobile Gesundheitsberatung ist es uns wichtig, dass die Leute selbst sagen, was sie interessiert und dass wir dann darüber forschen und aufklären und dabei immer die sozialen Zusammenhänge einbeziehen.

Ist Nordneukölln noch der richtige Ort für so ein soziales Stadtteilzentrum, oder zeichnet sich bereits ab, dass hier bald nicht mehr überwiegend Leute aus unteren sozialen Schichten und prekären Milieus leben?

Shao-Xi: Wenn man sich die Gesundheitsberichterstattung anschaut, haben der Rollberg und der Flughafenkiez trotz der fortschreitenden Gentrifizierung immer noch einen hohen Bedarf an besserer Gedundheitsversorgung...

Kisten: … trotzdem ist das definitiv ein Thema für uns. Auch wenn es sehr prekäre Viertel sind, gibt es auch hier Mietsteigerungen von 80 Prozent. Das haut natürlich rein. Damit haben wir uns auch schon ausführlich beschäftigt. Wir wollen natürlich auf keinen Fall selbst ein Akteur der Gentrifizierung sein, dadurch dass wir hier jetzt noch ein interessantes, attraktives Angebot schaffen. Das Problem ist uns bewusst und deswegen haben wir uns von Beginn an mit anderen sozialen Initiativen vernetzt, um unsere Solidarität deutlich zu machen. Ich glaube, dass diese massiven Gentrifizierungsprozesse für uns ein ganz spannendes Thema sind, weil sie viel Dynamik enthalten. Die meisten ziehen ja nicht sofort weg, sondern bleiben erst einmal in ihrer Wohnung, die sie sich eigentlich nicht mehr leisten können, weil es ja gar keine billigen Alternativen mehr gibt. Deswegen leben Familien irgendwann nicht mehr zu zweit, sondern zu siebt in derselben Wohnung…

… Quasi gedrängt statt verdrängt…

Kirsten: Genau. Aus dem Lebensstandard verdrängt. Man muss mehr Geld für Miete ausgeben, hat weniger Wohnraum – das sind natürlich Faktoren, die die Gesundheit massiv beeinflussen. Deswegen passt unser Projekt hier auch sehr gut hin, weil wir diesen Zusammenhang herstellen zwischen Lebensbedingungen und Gesundheit. Gentrifizierzung ist überall ein Thema – ob in der Kita oder in der Schule. Ich hatte mal ein Telefonat mit einem Sozialarbeiter aus einem Jugendzentrum in der Weserstraße, der von seinen Jugendlichen erzählt hat. Die wohnen mit vier Geschwistern in einem Zimmer, müssen Hausaufgaben machen, während die Kleinen spielen. Sie haben Angst, dass sie mit ihren Familien wegziehen müssen, ihren Kiez und ihre sozialen Kontakte verlieren. Wenn unsere Kinderärzt*in das mitbekommt, können wir zum Beispiel versuchen, Unterstützung und Solidarität zu organisieren. Das verstehen wir unter umfassender Gesundheitsversorgung.

Vielen Dank und viel Erfolg.

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